Arbeiten 2019

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Ausstellungseröffnung Collagen von Ruth Habermehl

Der Club der Schlange - Raumöffner für Fantasie am 12.10.2019 im Kunstverein Meißen

Sehr geehrte Gäste und Freunde der Kunst, liebe Else Gold und herzlich willkommen, liebe Ruth Habermehl,

vor 11 Jahren fragte mich Iduna Böhnig von der Galerie Raskolnikow in Dresden, ob ich Lust hätte, eine Ausstellung zu eröffnen. Aber gern doch, dachte ich, denn schon der Titel machte mich neugierig: Permit Yourself a View. Ruth Habermehl, die ich zuvor noch nicht kannte, zeigte Collagen. Einige Tage zuvor radelte ich in die Galerie, betrat den Raum und – staunte. Nein, ich staunte nicht nur, sondern ich war auf eine herrliche Weise erheitert. Vor einigen Arbeiten stand ich und lachte laut, ein Lachen ganz tief aus dem Bauch heraus, befreiend und ohne irgendwelche Zwischentöne. Deshalb beschloss ich, auch keine Rede zu halten, sondern ebenso skurrile Gedichte zu lesen, einige entstanden – beinahe wie von selbst – zu Ruths Arbeiten.

Ja, und fortan haben wir noch andere Dinge gemeinsam getan, wie zum Beispiel im Jahr 2014 in Leipzig, als Ruth im Rahmen des OHANA-Projektes eine blaue Pagode am Elsterflutbett in Leipzig aufstellte, die einen Automaten beherbergte, der mit Gedichten gefüllte bunte Kugeln gegen ein kleines Salär hergab. OHANA beschäftigte sich auf literarische Weise mit dem Fluss als Transportmittel, also auch mit der Möglichkeit, poetische Texte als geistige Wassertropfen „in Fluss“ zu bringen. Auch ich durfte Gedichte dazu beisteuern und das freute mich sehr. Meine Freundin Susanne, deren Arbeitsweg täglich an der kleinen Pagode entlangführte, verzichtete zuweilen auf ihren Kaffee am Büdchen und gönnte sich eine Kugel. Manchmal rief sie mich an, um mir das ihr zugeflossene Gedicht vorzulesen … Im gleichen Jahr erschien ein gemeinsames „Zündblättchen“ hier in Meißen, das Gedichte über Handwerkerinnen und Collagen von Ruth zueinander gesellte. Dieses Projekt werden wir im nächsten Jahr fortführen, dann erscheint ein gemeinsamer Band, in dem die unterschiedlichsten Handwerkerinnen zu Hause sein werden – gesehen von zwei Künstlerinnen, die so ganz unterschiedlich in die Welt blicken.

Permit Yourself a View – diese Aufforderung gilt auch heute Ihnen, liebe Gäste. Dem Titel der Ausstellung jedoch sollten wir uns kurz gemeinsam nähern, geht es doch um ein Buch, welches diese Arbeiten inspiriert hat, das hierzulande leider noch immer zu wenig bekannt ist: Rayuela des argentinischen Autors Julio Cortázar. Das Buch erschien 1963, die deutsche Übersetzung durch Fritz Rudolf Fries liegt erst seit 1981 vor.

Rayuela ist so etwas wie ein sprachlicher Abenteuerspielplatz. Julio Cortázar stellte mit seinem Roman die Konventionen des Lesens und die Konventionen des Lebens gleichzeitig infrage. Wie beim Himmel-und-Hölle-Spiel, auf das sich der Buchtitel bezieht, wird der Leser aufgefordert, bei der Lektüre hin- und herzuspringen – um auf diese Weise jene Suche nachzuvollziehen, an welcher der Protagonist Oliveira mehr und mehr zu verzweifeln droht. Der Autor schlägt gleich zu Beginn vor, das Buch nicht einfach von vorn nach hinten, sondern hin- und herspringend zu lesen. Das formale Durcheinander des Buches ist somit das Spiegelbild einer Welt, deren traditioneller Struktur und Hierarchie der Autor misstraut. Cortázar erhofft sich, dass der Leser – so heißt es im Buch – zum „Komplizen“ wird, der die Fragmente des Textes verbindet und damit selbst für ein kleines Stück Offenbarung sorgt.

Der Club der Schlange besteht aus einer bunten Gruppe von Freunden, die manche Nacht mit viel Jazz, endlosen Debatten, billigem Alkohol und viel Tabak verbringen. Oftmals betrinken sich alle, es gibt Tränen, Streit und zärtliche Gesten. Oliveira hilft die euphorisierende Freiheit des Jazz dabei, über die Unordnung in seinem Kopf nachzudenken … „Schon damals“, lässt Cortázar seinen Protagonisten sagen, „war mir klar geworden, dass Suchen meine Bestimmung war, Emblem derer, die nachts fortgehen ohne festes Ziel, Daseinsberechtigung der Matadore der Kompassnadel.“

Hin- und Herspringen und dabei eine Gleichzeitigkeit von Menschen, Orten und Geschehnissen erzeugen, das scheint auch das Thema der Collagen von Ruth Habermehl zu sein. Doch anders, als die zuvor beschriebene Heiterkeit, erzeugen ihre neuen Collagen eher Verstörung, Verwirrung, denn gezeigt wird hier Spiegelbild einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, deren gleichzeitige Ereignisse sich zwischen Himmlischem und Höllischem abspielen. Und dennoch – oder gerade dadurch – üben sie einen Reiz, eine Magie auf den Betrachter aus, einen Sog, der mögliche Zusammenhänge erkennen lässt, abgründige und reizvolle. Die meisten Arbeiten entstanden zwischen 2016 und 2018, einer Zeit, in der das Weltgefüge zunehmend ins Wanken geraten ist. Diese große Unruhe ist in Ruth Habermehls Arbeiten spürbar, die künstlerische Technik der Collage, die sie schon länger und meisterhaft in ihren Arbeiten verwendet, hat in diesen neuen Arbeiten an Wucht gewonnen. Längst ist sie kein Spiel mehr, sondern ein unerbittliches Ringen um Anwesenheit in einer Welt, die sich in ihrer zerstörerischen Genusssucht selbst abzuschaffen droht. Der Weg zwischen Himmel und Hölle ist schon lange keine neun Sprünge mehr wert.

Es verwundert deshalb auch nicht, dass die Technik der Collage, deren Begriff durch den französischen Schriftsteller und Surrealisten André Breton geprägt wurde, als Stilmittel verwendet wird, um Realität zu fassen, wenn diese am flüchtigsten zu sein scheint. Für Max Ernst beispielsweise war die Collage mehr als ein bloßes Stilmittel, 1962 schrieb er in seinen biographischen Notizen „Wahrheitgewebe und Lügengewebe“: „Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.“

Und genau das macht den Reiz der Collagen von Ruth Habermehl aus – denn er springt, der Funke, und Poesie ist in diesem Zusammenhang eben ein Synonym für das Unsagbare, das sich in Staunen offenbart und dazu angetan ist, Geschichten zu finden oder zu erfinden, Fragen zu stellen und im Sinne Cortázars immer weiter zu suchen – egal ob nach der Wahrheit, der Schönheit oder der Freiheit, nicht lügen zu müssen.

Deshalb geht die Künstlerin auch mit Titeln recht sparsam um. Sie will keine Fährten legen, nicht verführen. „Der Club der Schlange“ ist der längste Titel, ansonsten sind es zwei, drei Worte, meist nur eines, das den Betrachter antippt und auf eine Augenreise schickt.

Auf diese sind Sie nun eingeladen, verehrte Gäste und vielleicht haben Sie auch Lust bekommen, dem großen argentinischen Autor Julio Cortázar durch die Lektüre seines ungefälligen Romans Rayuela verspätete Ehre zu erweisen.

Genießen Sie diesen frühen Abend, lassen Sie sich irritieren und erhellen.

Undine Materni